Das Jahrhundert der Zisterzienser

Die Ausbreitung des Zisterzienserordens, die aus dem bescheidenen Anfang von Cîteaux hervorging, ist in der Geschichte des Mönchtums beispiellos. Innerhalb eines Jahrhunderts schaffte es der neu entstandene Zisterzienserorden, Europa flächendeckend mit Tochtergründungen zu überziehen. Die politische, wirtschaftliche und spirituelle Bedeutung dieser Entwicklung rechtfertigt es, von einem "Jahrhundert der Zisterzienser" zu sprechen. Nicht nur wichtige Persönlichkeiten wie Bernhard von Clairvaux, Papst Eugen III. oder Wilhelm von St.-Thierry stehen für diesen Prozess. Vielmehr sind es die kulturelle Elemente, die in diesem Zug weitergetragen wurden. Die Bauschulen der Zisterzienser exportierten den frühgotischen Stil ihrer burgundischen Heimat nach ganz Europa, Weinbau und Landwirtschaft, die Urbarmachung ganzer Landstriche und die solide Wirtschaft der Tochtergründungen stehen für diesen Erfolg.

Aus dem bescheidenen Anfang im Novum Monasterium entstand innerhalb kürzester Zeit ein ganzes Netz von Klostergründungen. Nach den schwierigen Jahren des Anfangs entwickelte sich der Orden nach 1115 explosionsartig weiter. Als Papst Callixtus II. 1119 das Privileg des neuen Ordens ausfertigte, sprach man von zwölf Abteien. Im Jahre 1133 versammelten sich bereits 69 Äbte beim Generalkapitel, 343 Klöster gab es zur Zeit des Todes von Bernhard (1153), 647 bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts, 742 am Ausgang des Mittelalters. Dazu kommen noch 761 Frauenklöster, die eine ganz eigene Dynamik entfalteten (Zu den Zahlen siehe Braunfels, aaO. S. 113, Eberl, aaO. S.47). Wie ein Baum verzweigen sich die Gründungen der Mutter Cîteaux und ihrer vier Tochtergründungen.

Zitat

"Sie haben alle Einsamkeiten Europas von Irland bis an die Grenzen des russischen Reiches nach Pflanzstätten für neue Klöster abgesucht... Es war erstaunlich, welches Vertrauen die Äbte der Großklöster auf viele ihrer noch blutjungen Mitbrüder setzten, die sich mit einer Mannchaft von zwölf gleichjungen Gefährten Jahr fÜr Jahr ins Unbekannte und Leere zur Gründung neuer Niederlassungen sandten. Am Ende wurden sogar die Einsamkeiten in Europa rar. 1152 hat das Generalkapitel verfügt, dass jede Klostergründung von jetzt an genehmigungspflichtig sei. Keines dürfe näher als 15 000 Schritt vom nächsten entfernt errichtet werden." Braunfels, aaO. S. 113f

Der erstaunliche Erfolg lässt sich durch das Zusammenspiel verschiedener Faktoren erklären. Die Zunahme der Bevölkerung im 12 und 13. Jahrhundert können als äußere Faktoren ebenso herangeführt werden wie der Einfluss des Mönchtums auf das Machtvakuum zwischen den erstarkenden Königreichen und der Macht der Fürsten (vgl. Leroux-Dhuys, aaO., S.33). Viel entscheidender jedoch sind innere Faktoren. Der Armutsgedanke und das Weltfluchtsverlangen, das Filiationssystem und die Selbstständigkeit der Tochtergründungen, die hohe Funktionalität und das rationale Ordnungsstreben der Zisterzienser sind Grundlagen ihres Erfolges.

Wie ein Schneeballsystem wirkt der Filiationsgedanke: sobald eine Abtei wirtschaftlich gefestigt ist und über eine ausreichende Zahl von Mitgliedern verfügt, gründet sie neue Tochtergründungen (lat. filia, Tochter). Die Mutter hat dann zwar noch das Recht zur jährlichen Visitation, jedoch ist die Tochter wirtschaftlich selbstständig. Jedes Kloster ist eine eigene Einheit nach den gleichen Ordnungen die im ganzen Orden gelten. Diese weitgehende Autonomität begründet den wirtschaftlichen und organisatorischen Erfolg der Zisterzeinserklöster. Alle Klöster folgen dem selben Muster in der Liturgie und der Archtitektur, der Klosterordnung und der Wirtschaft. Ein ausgeklügeltes System von Klosterhöfen (Grangien) und städtischen Handelsniederlassungen (Pfleghöfen) sichert den wirtschaftlichen Erfolg mit einer nahezu modernen Struktur. Das Generalkapitel wird zur gemeinsamen Klammer die das auseinanderstrebende Ganze zusammenhalten soll. Doch je größer der Orden wurde, je mehr der ursprünglche Armutsgedanke verloren ging, je reicher die Klostergründungen wurden, desto deutlicher kündigte sich auch der Niedergang an. Weiter->