Das himmlische Maß

Kein Orden zuvor (und wohl auch keiner danach) hat mit solch einer akribischen Präzision die Idee des idealen Klosters verwirklicht wie der Orden von Cîteaux. Über 700 Klöster in ganz Europa folgen dem selben Idealplan, der wohl nie überliefert dennoch vorgelegt haben muss. Immer wieder werden die selben Proportionsmaße zum Bau neuer Abteien herangezogen und wir finden die selbe Anordnung der Räume in fast allen Klöstern. Dazu begegnen uns typische architektonische Elemente und Stilformen, die dem Kloster des Ordens sein unverkennbares zisterziensisches Aussehen schenken. Wo immer ich zu Gast war in einem Kloster der Zisterzienser, fühlte ich mich zuhause in einer wohlvertrauten Welt ...

 

Bezeichnend für die Baukunst der Zisterzienser ist der Wille zur Funktionalität und Einfachheit. Das Kloster ist zum einen Zweckbau - zum anderen aber auch Abbild des Himmlischen. Es darf die Andacht der Mönche nicht ablenken - aber es muss dennoch hin lenken auf die himmlischen Wahrheiten. So verzichtet das Zisterzienserkloster ganz auf den Schmuck und die Farbenpracht mittelalterlicher Baukunst. Türme sind ebenso verpönt wie bunte Fenster. Figürlicher Schmuck und Skulpturen sind verboten (die Kapitelle ziert ein einfaches Blattwerk). Die Mauern sind unverputzt und die Wand schließt gerade ab (ohne runde Absiden oder andere aufwendige Formen oder Verzierungen).

 

Dennoch ist das Kloster ein Abbild der himmlischen Vollkommenheit. Es ist ein Paradies aus Stein, geformt aus besten Materialien, in vollkommener Harmonie und gebaut für die Ewigkeit. Das unverputzte Mauerwerk besteht aus bestens behauenen gleichförmigen Quadern. Man suchte nach dem härtesten und besten Stein der Umgebung. Oft hat das Mauerwerk die Jahrhunderte scheinbar unbeschadet überstanden. Alle Bauteile sind aus Stein. Wo es geht, wird ein Gewölbe eingezogen und auf Decken aus Holz verzichtet. So wurden die Zisterzienser zu Meistern ihres Handwerks - sie wussten die besten Mauern und die schönsten Gewölbe zu formen, sie waren Meister des schmucklosen Ornaments in Glasfenstern, Bodenkacheln oder Blattkapitellen. Sie beobachteten den Lichteinfall in den Gebäuden, platzierten Fenster genau nach dem Lauf der Sonne, studierten den Klang und die Akustik der Räume und ihre Harmonie.

 

Wo der Mensch sich der Kunst enthalten muss, da wird auch das wenige, was erlaubt ist, zur Kunst. Sämtliche Raumteile des Klosters folgen idealen Harmonien. Das Quadrat (1:1) oder der Quader (Höhe = Breite = Länge) ist das beherrschende Grundmuster. Andere Harmonien leiten sich oft auf ein Grundquadrat zurück (etwa als ein Vielfaches oder im Verhältnis 1:2 usw.). Der ganze Grundriss lässt in der Regel ein Grundquadrat erkennen, aus dem alle Proportionen des Klosters geformt sind. Die ausgesprochen wohltuende optische Wirkung zisterziensischer Räume lässt sich auf diese Harmonien zurückführen, ebenso wie auf die bedachte Anordnung von Fenstern, der Ausrichtung auf den täglichen Sonnenlauf und die Ausrichtung auf das vorgegebene Gelände.

 

Wie wohl das Ambiente des so geformten Klosters auf die Seele der darin lebenden Mönche gewirkt haben mag, lässt sich durchaus erahnen. Ein ganzes Leben in immer den selben Räumen zu verbringen ist schon ein hoher Anspruch, an dem die Zisterzienser unentwegt in ununterbrochener Bautätigkeit gearbeitet haben. Die Ergebnisse ihrer unentwegten Bobachtung ihres einförmigen Lebensraumes und die Gestaltung des immer gleichen gewinnen auch heute noch unseren Respekt. Das Kloster wird zu einem Sinnbild einer höheren, geordneten Welt.