Die Einheit der Liebe
Stephan Harding (1059-1134) übernahm 1109 das Amt des Abtes von Cîteaux. Auch er gehörte zu den alten Getreuen des Robert von Molesme und hatte den ganzen Weg der Gründung mitverfolgt. Er hatte Robert auf der Rückreise von einer Pilgerreise nach Rom kennengelernt und war in Molesme ins Kloster eingetreten. Schon bald gibt er dort als Prior des Neuklosters sein Organisationstalent zu erkennen. Als neuer Abt in Cîteaux setzte er ganz andere Maßstäbe als sein Vorgänger:
Zitat
Die extrem strenge Observanz und die überaus große Armut der Ordensgemeinschaft unter Alberich drohten das Kloster in den Ruin zu treiben. Der pragmatischere Stephan Harding verstand es besser als Robert oder Alberich, dafür zu sorgen, dass die Abtei wuchs und gedieh, ohne dass der religiöse Geist dabei verkümmerte." Leroux-Dhuys, Zisterzienser, 1998, S. 27
Zu den großen Verdiensten Stephan Hardings gehört die Ausarbeitung einer Verfassung, die dem neu enstehenden Orden seine besondere Ausprägung gab und das beispiellose Wachstum erst möglich machte. Die neue Ordnung wurde erforderlich durch die Gründung neuer Abteien, die aus Cîteaux hervorgingen. Stephan war bedacht darauf, auch den neuen Gründungen den Geist von Cîteaux weiterzugeben.
Ein besonderes Ereignis begünstigte diese Entwicklung: Im Jahre 1113 trat der junge Adlige Bernhard von Fontaines mit 30 seiner Gefährten in Cîteaux ein. Die große Zahl neuer Mitbrüder machte die Neugründungen erst möglich, ebenso wie der von Stephan eingebrachte Beschluss, Schenkungen zu fördern und anzunehmen. Zur Unterstützung der schnell wachsenden Gemeinschaft entstanden unter Stephan auch das Laienbrudertum. Nur durch sie konnte der Betrieb aufrechterhalten werden.
Schon im Jahre 1114 beauftragte Stephan Bernhard mit der Gründung von Clairvaux. Besonders von Clairvaux aus wuchs der Orden über ganz Europa, ebenso wie von den weiteren Gründungen in Morimond und Pontigny. Der schnelle Zuwachs an Tochterabteien erforderte eine klare Struktur der Ordenverfassung. In der Charta Caritatis regelte Stephan Harding das Verhältnis der einzelnen Abteien zueinander. Liebe und Einmütigkeit sollten die Klostergründungen für immer verbinden. Jedes Kloster sollte für sich den Geist von Ciîteaux als einer Ritterschaft Christi weitertragen (milites Christi).
Die besondere Verfassung des Zisterzienserordens kann als Schlüssel zu seinem Erfolg gesehen werden. Jede einzelne Abtei war eine absolut selbstständige Einheit für sich. Anders als in Cluny gab es es keinerlei Abhängigkeit und Hierarchie zum Mutterkloster, der man durch Abgaben verpflichtet war. Jedes Zisterzienserkloster sollte wirtschaftlich unabhängig sein. Lediglich einmal im Jahr hatten die Äbte des Mutterklosters das Recht der Visitation in ihren Tochtergründungen (die vier Äbte der Primarabteien visitierten zusammen die Mutter in Cîteaux). In Streitigkeiten wurden die örtlichen Bischöfe gebeten, die Aufsicht über die Gründungen zu übernehmen. Im Gegensatz zu Cluny waren die Zisterzienserklöster dadurch wesentlich enger in die lokale kirchliche Hiererachie eingebunden und nicht durch Exemption der kirchlichen Ordnung enthoben. Die neue Ordnung wurde September 1119 verabschiedet und im selben jahr von Papst Kallixt II. bestätigt (Bulle "Ad hoc in apostolici").
Das lose Verhältnis von Abhängigkeiten der einzelnen Gründungen machte jedoch noch ein anderes Instrument erforderlich, um die Einheit des zisterziensischen Geistes zu bewahren. 1115 tagte das erste Generalkapitel in Cîteaux, zu der jährlich alle Äbte des Ordens zusammenkamen. Die hier gefassten Beschlüsse waren fortan verbindlich für alle Klöster. Wie ein Parlament wachte das Generalkapitel über die Entwicklungen im Orden. ---> weiter.
Zitat
"Der Rechtshistoriker Léon Moulin betrachtet das Generalkapitel von 1115 in Cîteaux als »die erste supranationale Versammlung Europas« und dies ein Jahrhundert vor der englischen 'Magna charta', dem Embryo einer parlamentarischen Regierungsform." ...
"Ein anderer Kenner der europäischen Rechtsgeschichte, Léon Pressouyre, beurteilte die Zisterziensische Grundverfassung als »eine der revolutionärsten Strukturen des Mittelalters«, die es verstand, »die Fallen des Zentralismus zu umgehen und den Risiken des Dirigismus und der Anarchie vorzubeugen«."
Aus Pfister, Klosterführer, Straßburg 1998, S.20